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  Radio als (proletarischer) Kulturfunk:

Die Vorstellung vom Rundfunk als einem möglichen Kultur- und Bildungsinstrument der Arbeiterschaft, die anfangs in nahezu allen grundsätzlicheren Beiträgen des NRF zu finden ist, orientiert sich noch stark an der offiziellen, zumindest der Öffentlichkeit gegenüber immer wieder vertretenen Funktionsbestimmung des Weimarer Rundfunks als ‘unpolitischem Unterhaltungsrundfunk’[*]. Durchaus ähnlich dieser Maxime wird das Radio hier zunächst nicht als ein Forum für aktuelle und politische Berichterstattung gesehen, sondern als "Kulturfaktor"[*]. Statt, wie der Weimarer Rundfunk, unter dem Deckmantel angeblich ,neutraler’ Kultur vor allem "reaktionäre Propaganda" und "unkünstlerischen, auf die Zustimmung satter, bürgerlicher Verdauungsindolenz berechneten Kitsch"[*] zu verbreiten, soll das Radio nach Vorstellung der Autoren des NRF jedoch als "technisches Hilfsmittel" dazu verwendet werden, ``(…) den kulturellen Willen der aufsteigenden Klasse zu manifestieren"[*], und zu diesem Zweck als "wirkliches Volksbildungsunternehmen"[*], als ein "Kulturwerkzeug des schaffenden Volkes"[*] dem "proletarischen Kulturkampf"[*] dienstbar gemacht werden. M. Felix Mendelsohn schreibt in diesem Zusammenhang sogar von einem "Machtkampf", den die werktätige Hörerschaft führen müsse:

"(…) ein Kampf mit dem Ziel, die Darbietungen des Rundfunks in den Dienst der kulturellen Bestrebungen der werktätigen Bevölkerung zu stellen, sie von reaktionärer Ideologie zu befreien, und den Rundfunk, dieses grandioseste Volksbildungsunternehmen der Welt, nicht zum Unterhaltungszweck privilegierter Klassen zu dulden, sondern es dem Aufstieg der Massen dienstbar zu machen."[*]

Die Vorstellungen, die dabei von den Autoren der Zeitschrift über die konkrete Gestaltung eines solchen proletarischen Kulturfunks entwickelt werden, sind allerdings recht unterschiedlich. Zwar ist man sich noch weitgehend darüber einig, daß die Programme des Rundfunks "im Dienste der Menschlichkeit" stehen und auch’’(…) der Völkerverständigung zu dienen (haben)"[*]. Unterschiede bestehen jedoch sowohl hinsichtlich der Frage, welche Kultur und Bildung der Arbeiterschaft mit Hilfe des Radios vermittelt werden soll, als auch in Bezug auf den politischen Stellenwert, der dieser Vermittlung zugemessen wird.

Ein Teil der Autoren sieht die Aufgabe des Rundfunks als ‘Kulturfaktor’, ähnlich, wie sie auch in der eher bürgerlichen Fach- und Massenpresse diskutiert wurde[*], vor allem darin, der Arbeiterschaft einen Kultur- und Bildungsgenuß zu ermöglichen, der zuvor nur bürgerlichen Kreisen zugänglich war. Die Darbietungen des Rundfunks gelten ihnen daher als ein preiswerter Ersatz für einen, Arbeitern in der Regel schon aus materiellen Gründen nur begrenzt möglichen Schul-, Konzert- oder Theaterbesuch, als eine Möglichkeit, sich – wenn auch aus zweiter Hand – den immateriellen Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft aneignen zu können. Julius Nowottny, der Vorsitzende des österreichischen Arbeiterradioverbandes und spätere Vorsitzende der Arbeiter-Radio-Internationale, schreibt so z.B. über "Das Radio im Dienste der proletarischen Kultur":

"Auch die Besitzlosen werden nun miteinbezogen in den Kulturkreis der Welt, welcher bisher zum überwiegenden Teil Monopol der Besitzenden war. Auch der am Abend abgerackert von der Last des Tages heimkehrende Arbeiter kann in seinen vier Wänden Kunstgenuß und Belehrung empfangen und sich an die geheimnisvolle Welt anschließen."[*]

Den Vertretern dieser Position liegt es dabei fern, den Nutzen einer spezifisch bürgerlichen Kultur und Bildung für Arbeiter in Frage zu stellen, oder gar eine besondere, proletarische Kultur im Rundfunk zu fordern. Nicht der Inhalt von Kultur und Bildung ist in ihren Augen klassengebunden, sondern nur der Zugang zu den Kulturgütern. Mit Hilfe des Rundfunks wollen sie deshalb die Klassenschranke, die die Arbeiterschaft von den kulturellen Genüssen der Besitzenden trennt, niederreißen – oder doch wenigstens absenken, und "gute Kunst", wie es in einem anderen Artikel heißt, zu einer "Sache des ganzen Volkes" machen[*]:

"Denn in Wirklichkeit hat nur die große Tatsache Bedeutung, daß (…) die große Masse von ihrem Recht auf die Kulturgüter Gebrauch macht, die der gesamten Menschheit gehören. Ist es zu bedauern, daß die Technik uns hilft, uns das zu nehmen, was bisher dem reichen Snob vorbehalten blieb?"[*]

Die Durchbrechung des bürgerlichen Zugangsmonopols zu den Kulturgütern ist für die meisten Autoren dieser, den Inhalten der zu vermittelnden Kultur eher unkritisch gegenüberstehenden Gruppe jedoch in der Regel nicht der einzige Zweck eines proletarischen Kulturfunks. Von der Vermittlung von Kultur und Bildung im Radio versprechen sie sich zumeist auch eine sittliche Veränderung der (Arbeiter-) Hörer, durch die die Gesellschaft in ihren Augen aus einem, als mangelhaft empfundenen Zustand von "Nurtechnisierung und geistiger Verflachung"[*] herausgeführt werden kann, so daß die Vermittlung von Kultur und Bildung für sie – zumindest tendenziell – auch zu einem Ersatz für Gesellschaftsveränderung wird.

Schon für Nowottny stellt der radiophone Kunstgenuß für die Arbeiter so "(e)ine befreiende Auslösung gebundener Energie nach der abstumpfenden und mechanisierenden Arbeit im Betriebe"[*] dar. Und der Bochumer Redakteur Klaus Garbe[*] sieht in einem, als "Erziehungs- und Bildungsinstrument" verwendeten Rundfunk – ebenso wie in einem solchen, von ihm schon antizipierten Fernsehen – sogar eine "Macht innerlicher Kulturgesundung", die in ihrem "inneren Wesen" die gleichen "Elemente höheren Kulturstrebens" trage wie die Arbeiterklasse. Unterstützt durch die "kulturfördernden Tendenzen der modernen Arbeiterbewegung" könne er daher der "Flachheit rein mechanischer Einflüsse", die die Gesellschaft bedrohten, entgegenwirken, und "(…) der Gesellschaft (…) wieder eine Seele, eine reine, schlichte, tiefe Innerlichkeit geben"[*]:

"Schon heute lassen sich die Brücken ahnen, die einstmals Millionen von Menschen innerlich miteinander verbinden und über Egoismus und Eigennutz hinausheben werden. Die Übermittlung hoher künstlerischer und geistiger Werte wird nicht nur auf das ästhetische Gefühl der Menschen, sondern auf ihren ethischen Sinn einwirken. Das Anschauen und Anhören, der ästhetische und ethische Genuß wird das Fühlen und Wollen der Menschen läutern und ihre &Empfänglichkeit für hohe sittliche Ideale vergrößern. (…) Eine Philosophie, die das Gute, Wahre, Reine zum absoluten Begriff des gesamten Gesellschaftsstrebens erhebt, wird das Gesicht der Menschheit adeln."[*]

Wie sehr solche Konzepte radiophoner Kulturheilung dabei an der gesellschaftlichen Realität der Weimarer Republik, und damit letztlich auch an den Bedürfnissen und Interessen der unter den Bedingungen dieser Gesellschaft lebenden Arbeiter vorbeigehen, zeigt sich besonders bei Hello Verden, dessen Vorstellung von der "Neugestaltung des Rundfunks"[*] im Unterschied zu Nowottny und Garbe allerdings davon ausgeht, daß die angestrebte sittliche Veränderung der Arbeiterhörer nicht Abfallprodukt radiophoner Genüsse, sondern nur das Produkt bewußter Anstrengungen der Programmproduzenten sein kann. Sie sollen daher in seinen Augen "erzieherisch auf das Volk wirken", um so dazu beizutragen, das "Ideal der Volksgemeinschaft"[*] zu verwirklichen:

"Die Massen sollen zu freien, geistig denkenden (!) und pflichtbewußten Menschen herangebildet werden, die aus eigenem Willen bereit sind, der Gemeinschaft selbstlos (!) zu dienen und sich als bewußte Glieder dieser sozialen Volks- und Menschheitsgemeinschaft zu fühlen. Die Menschen sollen sich nicht nur mit der Befriedigung ihrer persönlichen alltäglichen Bedürfnisse bescheiden, sondern sie sollen ermuntert, erweckt werden, über das Alltägliche hinaus, höhere Ziele zu suchen und schönere Wege zu gehen."[*]

Wohin diese ,schöneren Wege’ führen sollen, wird deutlich, wenn Verden neben der Hilfe für Arme und Kranke oder der Pflege der Kunst auch die gewerkschaftliche Betätigung als eine Aufgabe des pflichtbewußten Menschen beschreibt. Lag schon für Garbe die "geschichtliche Aufgabe der Arbeiterschaft" vor allem darin, ``(…) das höchste Maß innerer Harmonie in die Gesellschaft zu tragen’’[*], so besteht nämlich auch für Verden der Zweck gewerkschaftlicher Tätigkeit nicht etwa in der Durchsetzung der materiellen – und in der Weimarer Republik nicht selten auch existentiellen Interessen der Arbeiterschaft. Nach Ansicht Verdens sollen die Arbeiter im Radio viel mehr dazu angeleitet werden, ‘selbstlos’ dem ‘edlen Ziel’ zuzustreben, mit Hilfe der Gewerkschaften nicht sich selbst, sondern’’(…) die Gesamtheit aus schlechter wirtschaftlicher Lage in Wohlstand zu heben."[*]

Im Gegensatz zu solchen Konzepten, die die Arbeiterschaft durch Kultur und Bildung aus "sozialer Fron und geistiger Verkümmerung"[*] befreien wollen, gehen die Vorstellungen der zweiten Autorengruppe davon aus, daß die Befreiung der Arbeiterklasse und die Errichtung einer neuen, ihren Bedürfnissen und Interessen entsprechenden Gesellschaft nur das Resultat einer grundlegenden "sozialen Revolution"[*] sein kann, die in ihren Augen mit "geschichtlicher Notwendigkeit" aus dem "das Laben der bürgerlichen Gesellschaft strukturierende (n) Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit" erwächst[*]. Auch sie wollen der Arbeiterschaft mit Hilfe des Rundfunks Kultur und Bildung vermitteln; die hier als "ideologischer Überbau"[*] begriffene Kultur der bürgerlichen Gesellschaft ist in ihren Augen jedoch nicht nur formal, durch den beschränkten Zugang zu den Kulturgütern, sondern auch inhaltlich durch den Klassencharakter der Gesellschaft geprägt, denn – so der Sozialdemokrat und Professor an der Universität Jena, Julius Schaxel in seinem Beitrag über "Die Kulturaufgaben des Proletariats":

"Solange und wo immer es ein soziales Proletariat gibt, wenn eine andere als die proletarische Klasse herrscht, ist die besitzlose Macht der Arbeitenden in gleicher Weise, wie von Besitz der Produktionsmittel auch von der formalen und inhaltlichen (!) Bestimmung der Kultur ausgeschlossen."[*]

Da die Kultur der bürgerlichen Gesellschaft auf diese Weise formal, wie inhaltlich mit Besitz und Reichtum eng verbunden, mithin bürgerliche Kultur ist, ist sie für die Vertreter dieser Position dem Proletariat wesensfremd"[*]. In ihren Augen reicht es daher nicht aus, der Arbeiterschaft mit Hilfe des Rundfunks eine Teilhabe an dieser Kultur zu ermöglichen. Statt den Arbeitern zu nützen und zu ihrer Befreiung beizutragen, würde dies vielmehr zu einem "Sichverlieren in der fremden Kultur"[*] führen:

"Der Schatz von Wissenseinzelheiten und Wissensanhäufungen nützt dem Proletariat nichts zur Durchführung seiner gesellschaftlichen Aufgabe, selbst wenn er ihm geschenkt wird. Im Gegenteil, der aus Religion, Philosophie und Weltanschauungen bezogene Trost trübt nur den Blick auf das eigentliche Ziel. Die Technik versklavt den Arbeiter, die Philosophie schläfert ihn ein, die Mannigfaltigkeiten der Wissenschaften betäuben ihn oder lenken ihn zum mindesten ab von der Gewinnung eigener Stellungnahme."[*]

Statt der Arbeiterschaft mit Hilfe des Radios bürgerliche Kulturgüter zugänglich machen zu wollen, betont die zweite Autorengruppe daher die Eigenständigkeit proletarischer Kulturbestrebungen und fordert in den Programmen des Rundfunks eine, dem sozialen und ökonomischen Befreiungskampf der Arbeiterschaft nützliche, proletarische Kultur und Bildung.

Schon in der ersten Ausgabe des NRF wendet sich so z.B. Wilhelm Hoffmann gegen das "Getue" der Funkgesellschaften, die sich einbildeten, ’’(…) allein darüber urteilen zu können, was (…) für die arbeitenden Massen gut ist"[*] und stellt fest:

"Alle Kreise, besonders die im Rundfunk, mögen sich das gesagt sein lassen: den Inhalt der proletarischen Kultur bestimmt das Proletariat selbst!"

Worin dieser Inhalt proletarischer Kultur besteht, ist bei Hoffmann allerdings noch recht vage gehalten. Im Gegensatz zu dem "oberflächlichen Kulturglauben" der Bürger, so schreibt er, würde das Proletariat die wirklichen Kulturtatsachen" aufspüren und an den "wirklichen Kulturträgern" anknüpfen:

"Wir stehen im Gegensatz zur bloß literarischen Kulturschöngeisterei. Die Kultur des modernen und antiken Menschen genügt uns nicht. Auch der faustische Mensch, (…) der alle Wissensgebiete, wie heute unsere gelehrte Welt, in den Händen hält, dem aber nur das geistige Band zur Verbindung der unendlichen Lebensbeziehungen fehlt, ist nicht das Ideal des erkenntniskritischen Proletariats. (…) Der proletarische Kulturbegriff ist radikal, er greift an die Wurzeln der Dinge, und diese Wurzel aller Dinge ist der Mensch."[*]

Ein erheblich umfassenderes Bild proletarischer Kulturinhalte und –ziele zeichnen demgegenüber Julius Schaxel, Jacob Blauner und Otto Brattskoven, deren Vorstellungen eng an die nach dem 1. Weltkrieg vom Reichsbildungsausschuß der SPD entwickelte Programmatik sozialistischer Bildungsarbeit angelehnt sind[*]. Ähnlich wie es dort als "Aufgabe eines planmäßigen sozialistischen Bildungswesen" betrachtet wurde, "(…) den Abstand zwischen den tatsächlichen Klassenverhältnissen und der Entwicklung des Klassenbewußtseins (…) zu verringern", wobei "die Gemütskultur ebenso wie Verstandeskultur" erfaßt werden sollte[*], so wird auch hier die "allgemeinste Kulturaufgabe des Proletariats" in der "Selbsterkenntnis seiner Klassenlage" gesehen[*]. Diese soll sich dabei nicht nur auf die Kenntnis des Arbeiters über "sein Verhältnis zu den Produktionsmitteln, seinen Anteil an der Produktion, seinen Zusammenhang zu den Genossen"[*], also seiner Stellung im Produktions– und Verwertungsprozeß des Kapitals erstrecken, sondern auch die Kenntnis z.B. "(s)einer Lage im Weltall, in der menschlichen Gesellschaft, in der Kultur (…)"[*] umfassen, also nahezu alle Lebens- und Wissensgebiete:

"Natur, Geschichte und Denken beherrscht von derselben Gesetzlichkeit, Arbeit und Arbeiter, Arbeiterklasse und Aufstieg der proletarischen Klasse im Kampf, das Wissen von der Wirklichkeit, die Fähigkeit zum selbständigen klassenbewußten Urteil, nüchtern abwägendes Betrachten der im Aufstieg zu übernehmenden Kulturgüter - eine Linie von der allgemeinen Wissenschaft, im Zusammenhang mit der Arbeit des Tages bis zum Arbeiter-Sport, Gesundung und Stählung des Körpers, Freiheit von Vorurteil, Aberglauben und nutzlosen Denklast, das ist Inhalt, Form und Ziel der Kulturaufgaben des Proletariats auf dem Wege zur Selbstbefreiung."[*]

Vor dem Hintergrund dieses Bildes proletarischer Kulturaufgaben besteht die Aufgabe des Rundfunks für Schaxel und Blauner vor allem in der "Schulung"[*] der Arbeiterschaft. Im "Dienste der gesamten Arbeiterschaft"[*] soll das Radio daher, wie Blauner näher ausführt, dazu verwendet werden, ``(…) den Arbeitermassen Bildungsmaterial zu vermitteln"[*], um dem Arbeiter ``(…) das nötige Rüstzeug (zu) geben, das er für seinen Kampf braucht(…)‘’[*]. Dabei sollen die Programme sowohl in die "moderne Naturerkenntnis" einführen, die die Arbeiter von allem "Aberglauben, Vorurteil, traditionellen Denken" befreien könne[*], als auch – und vor allem – eine "Kenntnis der Gesellschaftszustände’’ vermitteln.

"Um zu wissen, wo die Hebel anzusetzen sind, wenn eine Veränderung herbeigeführt werden soll, die ihm dienlich ist Um ihn zu lehren seine Machtposition auszunutzen, um ihm zu zeigen, welche Wege zur Besserung seiner Lage führen können, muß er die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt kennenlernen. Mit all jenen Dingen, die wir mit Psychologie, Soziologie, Staatslehre usw. bezeichnen, muß er vertraut gemacht werden. Vor allem auch mit den Bedingungen seiner eigenen Arbeit. über die Lohnfrage hinaus gilt es, ihn dafür zu interessieren, ihm die Möglichkeit zu geben, die Stellung seiner Arbeit in der gesamten Wirtschaft zu untersuchen. Ihm das Getriebe der Gesamtwirtschaft zu zeigen, die Organisation der Weltwirtschaft, kurz, ihm ein Studium der Ökonomie möglich zu machen."[*]

Eine gänzlich andere Vorstellung, zwar nicht von den Inhalten proletarischer Kultur, jedoch von der Form ihrer Vermittlung im Radio, entwickelt demgegenüber Otto Brattskoven. Für ihn ist der Rundfunk weniger ein Schulungsinstrument, als vielmehr ein Hilfsmittel für die Arbeiterklasse, um durch kulturelle Selbstdarstellung und Selbstverständigung eine eigenständige proletarische Kultur überhaupt erst entwickeln zu können. Unerläßliche Voraussetzung hierfür ist in seinen Augen allerdings die Schaffung eines "Arbeitersenders"[*], da nur dieser den Arbeitern ein "Vertrauen zur ungehinderten Äußerung" geben könne:

"Damit aber beginnt eine neue Phase, nachdem bisher das kulturelle Ausdruckswollen des Proletariats teilweise noch im Schlepptau bürgerlicher Werte und Unwerte sich befand und infolgedessen oft unsicher hin- und herschwanken mußte. (…) Was bisher nur in kleineren Veranstaltungen von dem tiefbegründeten und selbstwillig sich äußernden Kulturwillen der Massen zu erkennen war, bekommt jetzt erst das weite Bett, um den Stromlauf ungehindert und ungehemmt fließen zu lassen."[*]

Das Bild, das Brattskoven von der Programmgestaltung eines solchen Arbeitersenders entwirft, läßt dabei schon in Ansätzen die spätere Radioutopie Brechts ahnen. Ähnlich wie dieser im Rundfunk einen "Kommunikationsapparat"[*] sah, so will auch Brattskoven das Radio zu einem, allerdings nur kulturellen "Verständigungsmittel aller für alle"[*] machen, das dazu genutzt werden soll,

"(…) alle geistigen und seelischen Kräfte, die im schaffenden Volk noch ungehoben vergraben sind, wie in einem Staubecken aufzusammeln und zugleich wieder zu einem gewaltigen Kreislauf zu verteilen."[*]

Das Ziel dieser kulturellen Selbstverständigung der Arbeiter ist dabei für Brattskoven, ebenso wie für Schaxel und Blauner, die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die hier jedoch nicht als ein Produkt weitgehend theoretischer Schulung entstehen soll, sondern – wenngleich Brattskoven diesen Begriff noch nicht verwendet - als Resultat eines Erfahrungsaustausches der Arbeiter, der die gesellschaftlich bedingte, relative Gleichheit ihrer Erfahrungen zu Tage treten läßt und dadurch eine, eher praktische Erkenntnis der gemeinsamen Lage ermöglicht:

"Alle Sorgen und Wünsche, alle Erkenntnisse und Beobachtungen, alle Lebensbejahungen und Freuden am Dasein werden und dürfen hier nicht in individualistischer Pose dargestellt, sondern sollen einzigartig lebenssteigernd jedem zugänglich, allen gemeinsam gemacht werden. (…) Zu blassen Sehnsüchten war heute, wie gestern keine Zeit: allein die allmächtige Wirklichkeit soll regieren. Ihr soll ausschließlich Raum geschaffen werden, zu ihrer ganzen Erkenntnis und Erfüllung soll durch den Rundfunk ein vollkommener Kontakt innerhalb des schaffenden Volkes möglich gemacht werden."[*]


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